Bevor man irgendein Gefäß füllen kann, muss man es zunächst leeren. Das Herz ist ein Gefäß. Und wie jedes andere Gefäß, muss das Herz auch geleert werden – bevor es gefüllt werden kann. Man sollte niemals darauf hoffen, das Herz mit Allâh füllen zu können, solange das Gefäß voller Dinge neben dem Hocherhabenen ist!
Das Herz zu leeren bedeutet nicht, nicht zu lieben. Ganz im Gegenteil! Wahre Liebe, wie Allâh sie von uns verlangt, ist am reinsten, wenn sie nicht auf einer falschen Bindung beruht. Das Verfahren, das Herz zuerst zu leeren, ist in der ersten Hälfte des Glaubensbekenntnisses zu finden. Man muss beachten, dass das Glaubensbekenntnis mit einer entscheidenden Negierung beginnt, einer wichtigen Leerung. Bevor wir erhoffen können, wahren Monotheismus zu erlangen, bevor wir bestätigen können, an einen Eins-seienden Herrn zu glauben, bestätigen wir zunächst, dass es keinen “Ilâh“ (nichts Verehrungswürdiges) gibt. Ein “Ilâh“ ist ein Verehrungsobjekt. Dennoch ist es unerlässlich zu verstehen, dass ein „Ilâh“ nicht nur etwas ist, was verehrt wird. Ein „Ilâh“ ist etwas, um das sich unser ganzes Leben dreht, dem wir gehorchen und das uns äußerst wichtig ist – mehr als alles andere.
Wir leben dafür – und können nicht ohne es leben.
Daher hat jeder – Atheist, Agnostiker, Muslim, Christ, Jude – einen „Ilâh“. Jeder verehrt etwas. Für die meisten Menschen ist dieses Verehrungsobjekt etwas Diesseitiges. Einige Menschen verehren Besitz, einige Status. Einige verehren Ruhm, einige ihren eigenen Intellekt. Einige Menschen verehren andere Menschen. Und viele verehren sich selbst, ihre eigenen Gelüste und Launen, wie es im Qurân beschrieben wird. Allâh der Hocherhabene sagt: „Was meinst du wohl zu jemandem, der sich als seinen Gott seine Neigung genommen hat, den Allâh trotz (seines) Wissens hat in die Irre gehen lassen und dem Er das Gehör und das Herz versiegelt und auf dessen Augenlicht eine Hülle gelegt hat? Wer könnte ihn nach Allâh rechtleiten? Bedenkt ihr denn nicht?“ (Sûra 45:23).
Diese Verehrungsobjekte sind Dinge, an die wir uns binden. Doch ein Bindungsobjekt ist nicht nur etwas, an das wir uns binden. Es ist etwas, das wir im wahrsten Sinne des Wortes brauchen. Es ist etwas, das absolute Zerstörung erzeugt, wenn es verloren geht. Wenn es etwas – oder jemanden – außer Allâh gibt, das/den wir unmöglich aufgeben können, dann haben wir eine falsche Bindung. Warum wurde dem Propheten Abraham angeordnet, seinen Sohn zu opfern? Es geschah, um ihn zu befreien. Es geschah, um ihn von einer falschen Bindung zu befreien. Als er frei war, wurde ihm sein Zuneigungsobjekt (nicht Bindungsobjekt) zurückgegeben.
Wenn es irgendetwas – oder irgendjemanden – gibt, dessen Verlust uns völlig zerstören würde, dann haben wir eine falsche Bindung. Falsche Bindungen sind Dinge, deren Verlust wir fast zu einem krankhaften Ausmaß fürchten. Es sind Dinge, denen wir verzweifelt nachjagen, allein schon wenn wir spüren, dass sie abdriften. Wir jagen ihnen nach, da ein Gegenstand der Bindung völlige Zerstörung erzeugt. Und die Stärke der Zerstörung ist entsprechend dem Ausmaß der Bindung. Diese Bindungen können an Geld, Besitz, andere Menschen, eine Idee, körperliche Freude, ein Medikament, Statussymbole, unsere Karrieren, unser Aussehen, die Sichtweise anderer über uns, unsere körperliche Erscheinung oder Schönheit, unseren Kleidungsstil oder unser Erscheinungsbild bei anderen, unsere Abschlüsse, unsere Berufsbezeichnungen, unser Machtgefühl oder an unsere eigene Intelligenz und Vernunft sein. Doch solange wir diese falschen Bindungen nicht aufgeben, können wir das Gefäß unseres Herzens nicht leeren. Und wenn wir dieses Gefäß nicht leeren, können wir es nicht wirklich mit Allah füllen.
Dieser Kampf, das eigene Herz von falschen Bindungen zu befreien - der Kampf, das Gefäß des Herzens zu leeren, ist der größte Kampf des irdischen Lebens. Dieser Kampf bildet die Essenz des wahren Monotheismus. Und deshalb wird man sehen, wenn man die fünf Säulen des Islâm genau betrachtet, dass sie alle essenziell für das Trennen sind und dieses erst ermöglichen.
Die Schahâda (das Glaubensbekenntnis): Das Glaubensbekenntnis ist die verbale Bekundung der eigentlichen Trennung. Wir versuchen zu erreichen, dass Allâh der einzige Gegenstand unserer Verehrung, höchsten Hingabe, Liebe, Angst und Hoffnung ist. Und zwar einzig Allâh. Sich selbst von allen anderen Bindungen außer der Bindung zum Schöpfer zu befreien, ist die wahrhaftigste Manifestation des Monotheismus.
Das rituelle Gebet: Fünfmal täglich müssen wir uns vom Diesseits lösen, um uns auf unseren Schöpfer und unseren eigentlichen Lebenszweck zu konzentrieren. Fünfmal täglich trennen wir uns von allem, was wir im diesseitigen Leben tun, und wenden uns Allâh zu. Die Gebete hätten nur einmal täglich oder wöchentlich vorgeschrieben werden können oder alle fünf Gebete könnten jeden Tag zu einer Zeit verrichtet werden. Doch dem ist nicht so. Die Gebete sind über den Tag verteilt. Wenn man sich an seine Gebete zu deren bestimmten Zeiten hält, gibt es keine Gelegenheit abhängig zu werden. Sobald wir von irgendeiner diesseitigen Angelegenheit beansprucht werden, werden wir dazu gezwungen, uns davon zu trennen und uns auf das einzig wahre Bindungsobjekt zu konzentrieren.
Das Fasten: Beim Fasten geht es ebenfalls um Trennung. Es ist die Trennung von Essen, Trinken, sexueller Intimität und sinnlosem Gerede. Indem wir unser körperliches Ego bändigen, veredeln, läutern und erhöhen wir unser seelisches Ego. Durch das Fasten sind wir dazu gezwungen, uns von unseren körperlichen Bedürfnissen, Gelüsten und Freuden zu trennen.
Zakâ (Sozialpflichtabgabe): Bei der Zakâ geht es darum, sich vom eigenen Geld zu trennen und es um Allâhs willen auszugeben. Indem man es hergibt, ist man dazu gezwungen, sich von seiner Bindung an den Besitz zu trennen.
Der Haddsch (Die Pilgerfahrt): Der Haddsch ist einer der umfassendsten und tiefgreifendsten Trennungsakte. Ein Haddschi lässt alles in seinem Leben zurück. Er lässt seine Familie zurück, sein Heim, sein Gehalt, sein warmes Bett, seine bequemen Schuhe und seine Markenkleidung – alles im Austausch, um auf dem Boden oder in einem überfüllten Zelt zu schlafen und lediglich zwei einfache Stoffteile zu tragen. Beim Haddsch gibt es keine Statussymbole, keine rituelle Tommy-Hilfiger-Pilgerkleidung, keine 5-Sterne-Zelte. (Pilgerfahrtprogrammpakete, die 5-Sterne-Hotels anbieten, meinen damit vor oder nach dem Haddsch. Während des Haddsch schläft man in einem Zelt in Minâ und auf dem Boden unter freiem Himmel in Muzdalifa).
Man muss erkennen, dass Allâh in Seiner unendlichen Weisheit und Barmherzigkeit nicht nur von uns verlangt, uns vom Diesseits zu lösen – sondern uns auch genau erklärt wie. Zusätzlich zu den fünf Säulen bewirkt allein schon unsere Kleidung Bindungslosigkeit. Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) lehrte uns, uns zu unterscheiden, anders als die Masse zu sein, selbst in unserer Erscheinungsweise. Wenn man seinen Hidschâb, eine Gebetskappe oder einen Bart trägt, ist es nicht einfach, sich optisch anzugleichen – selbst wenn man es tun wollte. Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: „Der Islâm begann fremd und er wird wieder fremd wie am Anfang werden. Überbringt den Fremden also frohe Botschaft!“ (Muslim).
Indem man im Diesseits „fremd“ ist, kann man darin leben, ohne davon eingenommen zu werden. Durch diese Bindungslosigkeit können wir das Gefäß unseres Herzens leeren – in Vorbereitung auf das, was es nährt und ihm Leben verleiht. Indem wir unser Herz leeren, bereiten wir es auf dessen wahre Nahrung vor.